In allen Weltregionen stehen Städte vor der Aufgabe, sich neu zu erfinden. Ihre Transformation kann aber nur gelingen, wenn eine Vielzahl von Akteuren zusammenwirkt, das Gleichgewicht mit den Ökosystemen wiederherstellt und soziale Teilhabe für alle ermöglicht. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Ökologie und Nachhaltigkeit.
Inzwischen ist das Pendel umgeschlagen. Städte sind ökologische und soziale Krisenherde – aber zugleich gelten sie als Pioniere des Wandels. Sie stehen im Zentrum der Probleme und bergen gleichzeitig alle Elemente zu ihrer Lösung: als verdichtete Orte menschlichen Zusammenlebens mit all ihrer sozialen und kulturellen Vielfalt, ihrem Reichtum an Wissen, ihrer demokratischen Öffentlichkeit, ihrer Kreativität und Innovationsfähigkeit. Die Idee einer Auflösung der großen Städte zugunsten dezentraler Siedlungsstrukturen widerspricht nicht nur allen realen Entwicklungstendenzen, die überall auf der Welt eine beschleunigte Urbanisierung anzeigen. Der damit verbundene Flächenverbrauch wäre auch eine ökologische Katastrophe. Heute lebt zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Das weitere Wachstum der Menschenzahl auf der Erde in den kommenden Jahrzehnten wird sich fast vollständig in den Städten niederschlagen. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts wird der Urbanisierungsgrad auf etwa 80 Prozent steigen.
Der Zuwachs der Weltbevölkerung auf rund neun Milliarden Menschen multipliziert mit einem gewaltigen Nachholbedarf der Menschen in den Entwicklungsländern an Wohnraum, Mobilität, Lebensmitteln, Wasser und Konsumgütern aller Art – das bedeutet einen gewaltigen Stresstest für die ohnehin schon strapazierten Ökosysteme. Mit den überkommenen Energie- und Verkehrssystemen, Gebäudetechniken, Verhaltensweisen und Regierungsformen ist diese Herausforderung nicht zu bewältigen. Die Städte der Zukunft werden sich von den heutigen nicht nur graduell unterscheiden. Das gilt zumindest für die expandierenden Städte Asiens, Amerikas und Afrikas. Wir brauchen die stimulierende Kraft visionärer Entwürfe wie die Ökostadt Dongtang in China, die eine der ersten CO2-neutralen Städte der Welt werden soll, um gegen die Macht der Gewohnheit und die Trägheit der politischen und kommerziellen Mächte den Umbau der Stadt zu beschleunigen.
„Charta von Athen“ endlich im Museum
Architektur und Städtebau waren schon immer ein kosmopolitisches Metier. Baumeister und Handwerker wanderten schon in der Antike von Land zu Land – das gilt heute erst recht, wo nationale Grenzen sich innerhalb Europas allenfalls als Restriktionen des jeweiligen Bau- und Planungsrechts bemerkbar machen. Auch wenn sich die urbanen Realitäten im alten Europa, in den USA, in Asien oder Lateinamerika in Vielem fundamental unterscheiden, stehen Städte doch fast überall auf der Welt vor gleichen Problemen und Herausforderungen. Es macht durchaus Sinn zu fragen, wie Städte in verschiedenen Weltregionen sich der Aufgabe stellen, die Treibhausgasemissionen drastisch zu senken und einen zukunftsfähigen Entwicklungspfad einzuschlagen. Wie können sie der Energienachfrage und den Mobilitätsbedürfnissen einer wachsenden städtischen Bevölkerung gerecht werden, ohne die Ökosphäre definitiv zu ruinieren? Wie verwandeln wir unsere Städte zu Nettoenergieproduzenten auf der Basis erneuerbarer Energien? Wie sieht das Verkehrssystem der Zukunft aus, das individuelle Mobilität mit einem Maximum an Flexibilität und einem Minimum an Flächenverbrauch und Emissionen verbindet? Wie holen wir mithilfe modernster Technik wieder mehr Nahrungsmittelanbau in die Städte zurück und verwandeln monofunktionale Gebäude in multifunktionale Gebilde, in denen Läden, Büros und Wohnungen mit Gewächshäusern und gemeinschaftlichen Dachgärten kombiniert werden?
Zu all diesen Fragen gibt es schon heute eine Vielzahl von praktischen Antworten. Rund um den Globus sind Städte auf dem Weg, sich neu zu erfinden. Sie sind Vorreiterinnen bei der Senkung von Treibhausemissionen, setzen auf erneuerbare Energien und Kraft- Wärme-Kopplung, bauen die öffentlichen Verkehrssysteme aus und entdecken die Vorzüge lebendiger Stadtquartiere, in denen man auf kurzer Distanz arbeiten, wohnen, einkaufen und eine Vielzahl von Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann.
Die 1933 von einem internationalen Architekturkongress verabschiedete und in den Folgejahren von dem Architekten und Künstler Le Corbusier weiter ausgearbeitete „Charta von Athen“, die wohl wirksamste und unheilvollste städtebauliche Doktrin der Moderne, wandert endlich ins Architekturmuseum. Unter dem Vorsatz einer Humanisierung der Städte entworfen, entwickelte sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Programm der Stadtzerstörung. Im Kern ging es um die funktional-räumliche Trennung von Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Kultur in der Stadt. Breitspurige Verkehrstrassen zerschnitten den Stadtraum, auf denen die Masse Mensch zwischen monotonen Wohnquartieren, monofunktionalen Gewerbegebieten und sterilen Innenstädten mit ihren Kauf- und Kulturpalästen zirkulierte. Die Zerstörungen des Krieges in Europa boten den Propagandisten der funktional gegliederten Stadt ein ideales Betätigungsfeld, um ihr Zerstörungswerk an der alten, dichten und gemischten Stadt fortzusetzen.
Schickes Stadtrad statt PS-strotzende Limousine
Der Grundriss einer weiträumig gegliederten, aufgelockerten und autogerechten Stadt mit weitgehend separierten Lebensbereichen entspricht exakt dem Zeitalter der scheinbar grenzenlos verfügbaren fossilen Energien. Sie wird noch gesteigert durch die fortschreitende Suburbanisierung, das Ausfransen der Vorstädte in die offene Landschaft, was weitere Verkehrsströme erzeugt. Billiges Öl war der Schmierstoff der automobilen Revolution, die den öffentlichen Raum in den Städten okkupierte und die Landschaften zerschnitt. Große Kohlekraftwerke deckten den wachsenden Strombedarf von Haushalten, Innenstädten und Industrie. Dieser Typus von urbaner Moderne steigert nicht nur den Energieverbrauch in gewaltige Dimensionen; sie frisst auch immer mehr Lebenszeit der Stadtbewohner(innen) durch Ausdehnung der Verkehrswege. Zugleich zerstört sie die spezifische Qualität urbaner Öffentlichkeit, die nur durch funktionale Mischung, pulsierende Stadtquartiere und belebte Plätze entsteht. Tatsächlich korrespondiert der funktionalistisch-monumentale Städtebau eher mit faschistischen und kommunistischen Ideen, in denen Menschen als zu formende und kontrollierende Masse gelten, als mit einer demokratischen Vorstellung der Stadt als Res publica.
Heute begünstigt der Strukturwandel der städtischen Ökonomie die Rückwendung zur dichten und gemischten Stadt. Die Zeit der rauchenden Schlote ist zumindest in den postindustriellen Städten des Westens vorbei. Der räumliche Abstand zwischen Gewerbe und Wohnen kann wieder schrumpfen. Altindustrielle Brachen werden in Kultur- und Dienstleistungsquartiere umgewandelt. Die Kreativwirtschaft aus Designbüros, Medienunternehmen, Galerien, Modestudios, Beratungsunternehmen, Finanzdienstleistern und Forschungsinstituten sucht ein urbanes, kommunikatives Umfeld. Kultur, Bildung, Kindergärten, Restaurants und Bioläden im Nahbereich werden zu einem harten Standortfaktor. Für die neue Generation von Young Urban Professionals ist das Auto kein Statussymbol mehr. Es muss keine PS-strotzende Limousine mehr sein. Ein Hybridfahrzeug oder Elektroauto, das man lediglich für die gefahrenen Kilometer bezahlt, tut es auch. Statt eines teuren Schlittens leistet man sich jetzt ein schickes Stadtrad.
Öko-Wissen gehört inzwischen zum guten Architektenton
Wer dem Klimawandel zu Leibe rücken will, muss sich mit der Bautätigkeit der Menschen befassen. In den hochindustrialisierten Ländern entfallen rund 40 Prozent der Treibhausgas-Emissionen auf den Gebäudesektor. Zwar gibt es inzwischen weltweit innovative Beispiele für Green Buildings, die kaum noch Fremdenergie verbrauchen, ohne elektrische Klimaanlage auskommen und mit getrennten Wasserkreisläufen arbeiten. Ohne staatliche Nachhilfe dauert es aber noch Jahrzehnte, bis sich diese Pioniertechniken auf den Bestand ausgedehnt haben werden. Das liegt maßgeblich an den langen Lebens- und Abschreibungsszyklen von Gebäuden. Entsprechend langsam ist auch die Innovationsgeschwindigkeit im gebauten Raum.
Es gibt aber auch professionellen Nachholbedarf bei vielen Architekt_innen, Bauunternehmen und Immobilienmanagern. Lange Zeit spielten Energieeffizienz und Nachhaltigkeit weder in der Ausbildung noch in der beruflichen Praxis eine große Rolle. Das hat sich inzwischen geändert. Zumindest im Neubau zeichnet sich ein Boom ökologischen Bauens ab. Es gehört inzwischen zum guten Ton, über Energiebilanzen und ökologische Baustoffe Bescheid zu wissen. Technische Fortschritte, neue Materialien und besseres Design ermöglichen die Integration von Funktionalität, Ästhetik und Ökologie. Gebäudefassaden erzeugen Solarstrom und regulieren die Temperatur, vertikale Treibhäuser verbessern das Gebäudeklima und absorbieren überschüssige Wärme, horizontale Windkraftanlagen rotieren auf Dächern, dezentrale Kraft-Wärme-Aggregate decken den restlichen Energiebedarf, alle verbauten Materialien sind recycelbar: Das alles ist keine Utopie, sondern bereits heute machbar.
Im Jahr 2009 übergab der Bund Deutscher Architekten dem damaligen Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee das von zahlreichen Architekten, Ingenieurinnen und Landschaftsplanern unterzeichnete Manifest „Vernunft für die Welt“, in dem sie für ihre Zunft Verantwortung für den Klimawandel übernehmen. Das stimmt durchaus hoffnungsvoll. Viele Fragen einer Low-Carbon-Baukultur sind jedoch noch unbeantwortet: Wie übersetzen wir ambitionierte Pionierprojekte in einen umfassenden Stadtumbau, der möglichst rasch auch den Gebäudebestand ergreift? Welche Finanzierungs- und Förderinstrumente sind dafür nötig?
In der Energiewirtschaft hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit seinen garantierten Einspeisevergütungen für erneuerbare Energien für einen raschen Strukturwandel gesorgt. Ein vergleichbares Instrumentarium für den ökologischen Stadtumbau steht noch aus. Dabei können Visionen der zukunftsfähigen Stadt nicht beim einzelnen Gebäude haltmachen. Es geht um veränderte Stadtlandschaften und eine Erneuerung der Infrastruktur, insbesondere in den Bereichen Verkehr, Energienetze, schnelle Datennetze und Wasserversorgung. Dahinter stehen neue Entwürfe urbanen Arbeitens und Lebens, urbaner Kommunikation und Öffentlichkeit.
Die Transformation zur nachhaltigen Stadt lässt sich nur im Zusammenwirken einer Vielzahl von Akteuren bewältigen. Dabei ist die Politik auf allen Ebenen ebenso gefordert wie Investoren, Stadtplanerinnen, Architekten und die städtische Öffentlichkeit – also wir alle. Politik muss die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen setzen, um private Investitionen und individuelles Verhalten in ökologische Bahnen zu lenken. Dazu gehören progressiv steigende Energiestandards für Neu- und Altbauten, steuerliche Anreize für Wärmedämmung, ein attraktiver öffentlicher Verkehrsverbund, die fahrrad- und fußgängerfreundliche Umgestaltung des öffentlichen Raums, der Aufbau einer standardisierten Lade-Infrastruktur für Elektroautos und die schrittweise Umstellung der Staatsfinanzierung auf Ressourcensteuern. Der Aufbau der modernen Wasser- und Abwasserinfrastruktur in den Städten war nur möglich, weil für alle Immobilienbesitzer_innen ein Anschlusszwang festgelegt wurde. Eine analoge Regelung brauchen wir in Zukunft auch für Strom und Wärme aus erneuerbaren Energiequellen.
Wohlstandsinseln und Armutszonen vermeiden
Moderne Großstädte sind zu komplexe Gebilde, um sie zentral „von oben nach unten“ zu steuern. Das gilt erst recht für die Megacities in Asien, Lateinamerika und Afrika. Selbstverständlich braucht es eine integrierte Rahmenplanung für Bauen, Verkehr, Energie- und Wasserversorgung, Schulen und soziale Dienste. Aber sie wird nicht umgesetzt werden können ohne die frühzeitige Beteiligung der Stadtbürger(innen) an städtischen Planungs- und Entscheidungsprozessen. Das Internet erweitert die traditionellen Formen der Versammlungsdemokratie um neue Informationskanäle und Diskussionsforen zu städtischen Angelegenheiten. Die zentrale Verwaltung ist um eine dezentrale Selbstverwaltung der Stadtquartiere zu ergänzen. Eine dritte Akteurin ist die Zivilgesellschaft selbst – Bürgerinitiativen, Stadtteilprojekte, freie Träger für soziale und kulturelle Einrichtungen, Vereine, Selbsthilfegruppen, genossenschaftliche Projekte. Last but not least geht es darum, Unternehmen zu guten Corporate Citizens zu machen, die sich für die öffentlichen Angelegenheiten engagieren: als Sponsoren, aber auch als Partner von Schulen, Universitäten, Kulturhäusern und bürgerschaftlichen Projekten.
Die ökologische Erneuerung der Städte wird schwerlich gelingen, wenn sie nicht mit einer Überwindung der sozialen Kluft verbunden ist, die sich vielerorts immer stärker öffnet. Fällt die Stadt in räumlich segregierte Wohlstandsinseln und Armutszonen auseinander, wird auch einer integrierten Verkehrs- und Flächenplanung der Boden entzogen. Das hat Auswirkungen bis hinein in die Verkehrsstruktur: Wenn sich die sozialen Gegensätze verschärfen und die Unsicherheit steigt, ziehen sich die Wohlhabenderen in ihre Autos zurück. Die öffentlichen Verkehrsmittel verkommen, der öffentliche Raum verödet. Vermieter(innen) in Stadtquartieren mit hoher Arbeitslosigkeit werden schwerlich dafür zu gewinnen sein, in die ökologische Sanierung ihrer Gebäude zu investieren. Sozialer Wohnungsbau, Kulturzentren, Sportvereine, Anwohnerinitiativen und die Ansiedlung kleiner Gewerbebetriebe können zur Stabilisierung prekärer Wohnviertel beitragen. Der Schlüssel jedoch liegt in Bildung und beruflicher Qualifizierung – nur sie eröffnen auf Dauer einen Ausweg aus Armut und Perspektivlosigkeit.
Städte waren im Altertum die Wiege der Demokratie, der Philosophie und der Wissenschaft. Sie waren Zentren bürgerlicher Selbstverwaltung im späten Mittelalter und Pioniere der industriellen Revolution. Auch die großen demokratischen Bewegungen der Neuzeit gingen von den Städten aus: der Sturz der Feudalherrschaft und die Errichtung der demokratischen Republik. Jetzt müssen sie zu Vorreiter(inne)n der ökologischen Transformation werden. In ihnen entscheidet sich, ob wir einer humanen Zukunft entgegengehen, die das Gleichgewicht mit dem Ökosystem wiederherstellt und soziale Teilhabe für alle ermöglicht.
Dieser Text erscheint auch in:
politische ökologie (Band 124): Post-Oil City. Die Stadt von morgen.
Mit Beiträgen von R. Fücks, N. und B. Paech, G. Wessling, C. Müller, H.
Girardet, M. Adler, A. Holm u.v.m.
144 S., 16,90 Euro, ISBN 978-3-86581-255-1